Steiner über…

Vorbemerkung

In dieser Rubrik möchten wir Euch einige herausragende Textstellen aus dem umfangreichen Werk Rudolf Steiners präsentieren, die vor allem durch ihre Eindringlichkeit und Klarheit auffallen und damit beim Leser tiefgreifende Emotionen wecken können. Dennoch muss gesagt werden, dass den aus dem Zusammenhang genommenen Zitaten eine unvermeidliche Einseitigkeit anhaftet, die nur deshalb von uns in Kauf genommen wird, weil wir hoffen, dass das hier Dargebotene als Anreiz verstanden wird, um sich näher mit der Anthroposophie zu beschäftigen. Die Textstellen sollen nicht einfach dogmatisch aufgenommen werden, sondern ihre innere Kraft soll auf den Leser übergehen, so dass er den natürlichen Drang verspürt, sich mit existenziellen Fragen zu beschäftigen, von denen er im Alltag so oft abgelenkt wird.
Steiner selbst hat die folgenden Aussagen meist nur vor langjährigen Anthroposophien gehalten und einiges war zunächst nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Doch scheinbar erkennend, dass es in der kommenden Zeit immer schwieriger werden würde, die Menschen erst zu einer langjährigen Beschäftgung mit der Geisteswissenschaft zu bewegen, bevor man Ihnen tiefergehende Zusammenhänge offenbart, hob Rudolf Steiner kurz vor seinem Tod die Einschränkung "nur für Mitglieder" von vielen seiner Vortäge auf. Höchstwahrscheinlich in dem Glauben, dass das von ihm Mitgeteilte oft erst die "Initialzündung" für eine nähere Beschäftigung mit der Anthroposophie ist. Diese Überzeugung teilend, haben wir uns entschienden, folgende Textstellen hier zu veröffentlichen.
Was die Auswahl der Auszüge angeht, so kann gesagt werden, dass sie alle eine aktuelle Brisanz eint und sie darüber hinaus die Möglichkeit bieten, in relativ geraffter Form präzise Antworten auf existenzielle Fragen zu erhalten, deren Aussagekraft und Bedeutung man sich nicht zu entziehen vermag. So zum Beispiel seinen Aussagen über…

… Reinkarnation und die Bedeutung fuer die Kultur der Gegenwart

"[…] Nun könnte man die Frage aufwerfen: Warum tritt denn gerade jetzt die spirituelle Wahrheit unter die Menschen? Warum läßt sie nicht den Menschen Zeit, sich zu entwickeln, bis sie reifer sind?

Das rührt davon her, dass auch wieder kaum ein größerer Unterschied gedacht werden kann zwischen zwei aufeinanderfolgenden Menschheitsepochen, als er sein wird zwischen der Epoche, in der die gegenwärtige Menschheit lebt, und derjenigen, in welche die Menschheit hineinwachsen wird, wenn die jetzt lebenden Menschen wiedergeboren sein werden in der nächsten Inkarnation. Denn es hängt nicht von den Menschen ab, wie sich gewisse geistige Fähigkeiten herausbilden; das hängt ab von dem ganzen Sinn und der ganzen Bedeutung und dem ganzen Wesen der Erdentwickelung. Die Menschen sind jetzt nämlich am weitesten davon entfernt, an Reinkarnation und Karma zu glauben. Nicht die Anthroposophen – aber Anthroposophen sind ja nur wenige in der Welt –, nicht die, welche noch alten Religionsformen angehören, sondern die, welche heute die Träger des äußeren Kulturlebens sind, die sind heute am allermeisten davon entfernt, an Reinkarnation und Karma zu glauben. Nun wird merkwürdigerweise gerade diese Tatsache, daß die Menschen heute am allerwenigsten geneigt sind, an Reinkarnation und Karma zu glauben, verbunden mit dem, was die Menschen heute treiben und lernen, nämlich treiben und lernen, insofern dies in bezug auf intellektuelle Fähigkeiten eine Bedeutung hat – diese Tatsachen werden bewirken, daß bei diesen Menschen der Gegenwart in der nächsten Inkarnation das Gegenteil eintreten wird. Diese Menschen der Gegenwart werden in der nächsten Inkarnation – gleichgültig, ob sie spirituell oder materialistisch streben – starke Anlage haben, ihre vorhergehende Inkarnation zu empfinden. Ganz gleichgültig, was die Menschen der Gegenwart treiben: dadurch, daß sie Menschen der Jetztzeit sind, werden sie wiedergeboren werden mit einer starken Anlage und einer starken Sehnsucht, von der vorhergehenden Inkarnation etwas zu erfahren, etwas zu wissen. Wir stehen gerade an einer solchen Zeitenwende, welche die Menschen führt von einer solchen Inkarnation, in der sie am allerwenigsten wissen wollen von Reinkarnation und Karma, zu einer Inkarnation, in der in ihnen die lebendigste Empfindung sein wird: Das ganze Leben, das ich jetzt führe, steht für mich in der Luft, wenn ich nicht irgend etwas wissen kann über meine vorhergehende Inkarnation. – Und die Menschen, welche jetzt am allermeisten schimpfen über Reinkarnation und Karma, sie werden sich geradezu winden unter der Qual des nächsten Lebens, weil sie sich nicht erklären können, wie das Leben so hat werden können. Nicht um sich eine gewisse Rücksehnsucht nach dem vorhergehenden Leben anzueignen, wird jetzt Anthroposophie getrieben von den Menschen, sondern um Verständnis zu haben für das, was für die gesamte Menschheit einmal auftreten wird, wenn die Menschen, die heute leben, wieder da sein werden. Die Menschen, die heute Anthroposophen sind, werden die Anlage mit den anderen teilen, daß sie sich wieder erinnern wollen; aber sie werden Verständnis haben und dadurch innere Harmonie in bezug auf ihr Seelenleben. Die, welche heute die Anthroposophie zurückweisen, sie werden davon wissen wollen, und sie werden so etwas empfinden wie eine innere Qual nach etwas, was eben ihre vorhergehende Inkarnation wäre im nächsten Leben; sie werden aber nichts verstehen von dem, was sie am allermeisten drückt und quält; sie werden ratlos sein, werden innerlich disharmonisch sein. Und es wird ihnen gesagt werden mussen in der nächsten Inkarnation: Du lernst erst erkennen, was dir Qualen verursacht, wenn du dir vorsteilst, daß du eigentlich im Ernste diese Qual gewollt haben könntest. – Natürlich werden alle Menschen diese Qual nicht wollen. Aber die Menschen, die heute Materialisten sind, werden dann in der nächsten Inkarnation anfangen, ihre innere Zerknirschtheit, ihre innere Öde und Qual zu begreifen, wenn sie befolgen werden die Anforderungen, den Rat derer, die dann werden wissen können und ihnen sagen: Stellt euch einmal vor, dieses Leben, wie ihr es fliehen möchtet, das hättet ihr gewollt. – Wenn sie anfangen werden, diesen Rat zu befolgen, nachzudenken darüber: Wodurch kann ich dieses Leben gewollt haben? – dann werden sie sich sagen: Ach ja, da habe ich vielleicht gelebt in einer Inkarnation, in welcher ich gesagt habe: Was, ein anderes, nächstes Leben oder Inkarnation soll auf dieses Leben folgen? Unsinn! Dummheit! Wie kann man so etwas glauben! Dieses Leben erfüllt sich in sich selber, ist in sich abgeschlossen; das sendet keine Kräfte in ein späteres hinüber! Ja, weil ich dazumal die Empfindung gehabt habe, ein folgendes Leben ist nichtig, ist unsinnig, dadurch ist es nichtig und unsinnig geworden! Ich habe gerade den Gedanken in mich hineingepflanzt als Kraft, der mir jetzt das Leben so öde und leer macht!

Das wird ein richtiger Gedanke sein. So wird sich sozusagen karmisch der Materialismus ausleben. Sinnvoll wird die nächste Inkarnation bei denjenigen Menschen sein, welche sich die Überzeugung verschafft haben, daß ihr Leben, wie es jetzt ist, eben nicht nur in sich erfüllt ist, sondern Ursachen enthält für das nächste. Unsinnig, leer und öde wird das Leben derer sein, die durch den Gedanken der Unsinnigkeit der Reinkarnation sich selber das Leben öde und nichtig gemacht haben.[…]"

(aus Tb 647, S. 79–81)

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… die Bedeutung der Reinkarnation

"[…] Unter den Feststellungen der Geisteswissenschaft […] findet sich vor allen Dingen die Idee der wiederholten Erdenleben, das heißt jene heute ja wenig beliebte und verstandene Idee davon, daß sich die menschliche Individualität immer wieder und wieder in einer einzelnen menschlichen Persönlichkeit im Laufe der Menschheitsentwickelung der Erde auszuleben hat. […] Man könnte nämlich fragen: Was hat es denn für eine Bedeutung, daß die menschliche Individualität nicht nur einmal dieses Leben zwischen Geburt und Tod durchläuft, sondern immer wieder und wieder? Wenn man aber auf der anderen Seite die menschliche Erdenentwickelung im Sinne der Geisteswissenschaft betrachtet und findet, daß in dieser menschlichen Entwickelung ein fortschreitender Sinn enthalten ist, daß jede Epoche, jedes neue Zeitalter in einer gewissen Beziehung doch einen andern Inhalt darbietet und die Menschenentwickelung in einer aufsteigenden Linie ist, – so erscheint es einem bedeutungsvoll, daß diese mannigfaltigen Möglichkeiten des Lebens, diese vielen Inhalte des Lebens, die auf uns einströmen können im Laufe der Menschheitsentwickelung, eben wirklich von dem menschlichen Wesenskern auch immer wieder und wieder in sich aufgenommen werden. Das aber ist nur möglich, wenn der Mensch mit alledem, was er wesenhaft ist, nicht bloß einmal, sondern viele Male mit dem lebendigen Strome der Erdentwickelung verknüpft ist. […]"

(aus Tb 689, S. 252–253)

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… Grenzerfahrungen (karmische Krisis)

"[…] Wir nehmen einen Menschen an, der irgendwo in einem Walde geht, und der, weil er in Gedanken gegangen ist, vergißt, daß er auf einem Waldeswege geht, der unmittelbar – man braucht nur einige Schritte zu machen – an einen tiefen Abgrund angrenzt. Ich will die Sache , die sich durchaus abspielen kann, in dieser Form hier vorbringen; das Beispiel ist von mir, weil in entsprechender Weise mir ein ganz ähnlich gearteter Fall bekannt ist, auch anderswo erzählt worden. Dieser Mensch sieht nun nicht, daß dort ein Abgrund ist, weil ihn etwas besonders interessiert. Weil ihn eben sein Problem so stark interessiert, geht er auf den Abgrund los, aber mit einem solchen Schwunge, daß es ihm, wenn er nur zwei, drei Schritte mehr gemacht hätte, unmöglich gewesen wäre, sich zu halten. Er hätte dann im Vorwärtsschreiten hinunterstürzen müssen, und es wäre mit seinem Leben zu Ende gewesen. In dem Augenblick aber, wo er drauflostapsen will, hört er eine Stimme: Bleibe stehen! – Die Stimme macht einen solchen Eindruck auf ihn, daß er wie angenagelt stehen bleibt. Der Betreffende denkt, es muß jemand da sein, der sich seiner angenommen hat. Er hat sich besonnen, daß sein Leben zu Ende gewesen wäre, wenn er nicht auf diese Weise festgehalten worden wäre. Er sieht sich um, und sieht niemanden.

Der materialistische Denker wird nun sagen: Durch irgendwelche Umstände hat sich aus den Tiefen der Seele eine Gehörshalluzination ergeben, und es ist ein glücklicher Zufall gewesen, daß der Betreffende auf diese Weise gerettet worden ist. – Aber es ist auch möglich, auf andere Weise über die Sache zu denken; mindestens müßte man dies zugeben. Ich will es heute nur anführen; denn diese andere Weise läßt sich nur erzählen, nicht beweisen. Man kann sich sagen: Durch Vorgänge der geistigen Welt ist dir in dem Augenblick, als du an einer karmischen Krisis angekommen warst, dein Leben eigentlich geschenkt worden. Wenn alles so weitergegangen wäre, ohne daß jenes Ereignis geschehen wäre, dann wäre dein Leben zu Ende gewesen. So aber ist es jetzt als eine Art neues Leben an das vorhergehende angestückelt worden. Dieses neue Leben ist eine Art Geschenk, und du verdankst jetzt dieses dein Leben den Mächten, die hinter dieser Stimme stehen! – Ein solches Erlebnis könnten viele, viele Menschen der Gegenwart haben, wenn sie nur wirkliche Selbsterkenntnis üben würden. Denn es treten in das Leben geradezu vieler, vieler Menschen der Gegenwart solche Erlebnisse herein. Und es liegt nicht daran, daß die Menschen nicht ein solches Erlebnis gehabt haben, sondern daran, daß die Menschen nicht die nötige Aufmerksamkeit dafür gehabt haben, daß sie darüber hinweggegangen sind; denn es tritt nicht immer mit dieser geschilderten Deutlichkeit auf, sondern so, daß bei der gewöhnlichen Unaufmerksamkeit die Menschen darüber hinwegsehen. […]"

(aus Tb 647, S. 98–100)

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… Sektiererei

"[…] Deshalb ist es notwendig, für die Gedanken zunächst Anthroposophie und Anthroposophische Gesellschaft zu trennen. Denn, was Anthroposophie der Menschheit bringen soll, sind neue Erkenntnisse, neue Wahrheiten. Aber eine Gesellschaft kann niemals – und am allerwenigsten in unserer Zeit – auf irgendwelche besonderen Wahrheiten eingeschworen werden. Die Frage wäre die allerunsinnigste: Welchen Glauben habt ihr Anthroposophen? – Unsinnig ist sie dann, wenn man unter "Anthroposophen" einen Menschen meint, der zur Anthroposophischen Gesellschaft gehört; denn man würde dabei voraussetzen, daß eine ganze Gesellschaft eine gemeinsame Überzeugung, ein gemeinsames Dogma haben würde. Das kann nicht sein. In dem Augenblick, wo eine ganze Gesellschaft – statutengemäß – auf ein gemeinsames Dogma schwören müßte, hörte sie auf, eine Gesellschaft zu sein, und es würde die Sektiererei beginnen. Hier haben wir die Grenze, wo eine Gesellschaft aufhört, eine Gesellschaft zu sein. In dem Augenblick, wo ein Mensch verpflichtet würde, eine von der Gesellschaft geforderte Überzeugung zu haben, hätte man es mit einer Sektiererei zu tun. Man kann fragen: Welche Menschen kommen herbei, um über Anthroposophie etwas zu hören? – Und man wird sagen können: Es sind die, welche irgend etwas über geistige Dinge hören wollen. – Dieser Drang ist kein Dogma. Denn wenn jemand etwas sucht, wovon er nicht sagt, ich werde dieses oder jenes finden, sondern wo er, wenn er sucht, eben sucht, so ist dieses Suchen das Gemeinsame, was eine Gesellschaft, die nicht eine Sekte werden will, haben muß. […]"

(aus Tb 647, S. 107–108)

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… Gegnerschaft

"[…] Die äußere Gegnerschaft gegen alles Anthroposophische wird immer größer und größer werden in der Welt, und zwar aus dem Grunde, weil gerade Anthroposophie in unserer Gegenwart etwas im höchsten Grade Zeitgemäßes, etwas im höchsten Grade Notwendiges ist, und weil gegen das Allernotwendigste, gegen das Allerzeitgemäßeste die Auflehnung der Menschen im Grunde genommen immer am allerstärksten ist.

Nun könnte die Frage entstehen: Warum denn das? Warum ist die Auflehnung der Menschenherzen irgendeines Zeitalters am allerstärksten gegen das, was dieses Zeitalter am allernotwendigsten braucht? – Das ist etwas, was der Anthroposoph sollte begreifen können, was aber zu schwierig ist, um es vor einem unvorbereiteten Publikum auch nur im allerentferntesten klarzumachen.

Der Anthroposoph weiß, daß es luziferische Kräfte und Wesenheiten gibt, die hinter der allgemeinen Evolution zurückgeblieben sind. Die wirken durch die Menschenherzen, durch die Menschenseelen, und sie haben das allergrößte Interesse daran, in den Zeiten, in welchen das Streben nach aufwärts am größten wird, ihre Attacken, ihre Angriffe am allerstärksten zu machen. Weil nun die Auflehnung der Menschenherzen gegen das, was vorwärtsstrebt in der Menschheitsentwickelung, von den luziferischen Kräften herrührt, und weil diese ihre Attacken dann unternehmen werden, wenn es ihnen sozusagen an den Kragen geht, deshalb müssen diese Attacken – also auch die Auflehnung der Menschenherzen – in solchen Zeiten am allerstärksten sein. Daher werden wir verstehen, daß die für die Menschheit bedeutsamsten Wahrheiten sich von jeher dadurch eingelebt haben in die Menschheitsentwickelung, daß sie mit dem Umstande rechnen mußten, daß sie die stärksten Widerstände finden. Etwas, was sich nicht sehr unterscheidet von dem, was sonst auch vorkommt in der Welt, wird kaum starke Widerstände finden. Aber, was deshalb in die Welt tritt, weil die Menschheit seit langem darnach dürstet und es nicht empfangen hat, das ist zugleich das, was die stärksten Attacken der luziferischen Kräfte herausfordert. […]"

(aus Tb 647, S. 105–106)

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… Begierden und Läuterung

"[…] Man muß hier, um nicht in Verwirrung zu geraten, sorgfältig unterscheiden zwischen dem, was den Menschen an die Welt so kettet, daß es auch in einer folgenden Verkörperung ausgeglichen werden kann, und dem, was ihn an eine bestimmte, an die jeweilig letzte Verkörperung kettet. Das erstere wird durch das Schicksalsgesetz, Karma, ausgeglichen; das andere aber kann nur nach dem Tode von der Seele abgestreift werden.

Es folgt auf den Tod für den Menschengeist eine Zeit, in der die Seele ihre Neigungen zum physischen Dasein abstreift, um dann wieder den bloßen Gesetzen der geistig-seelischen Welt zu folgen und den Geist freizumachen. Es ist naturgemäß, daß diese Zeit um so länger dauern wird, je mehr die Seele an das Physische gebunden war. Sie wird kurz sein bei einem Menschen, der wenig an dem physischen Leben gehangen hat, lang dagegen bei einem solchen, der seine Interessen ganz an dieses Leben gebunden hat, so daß beim Tode noch viele Begierden, Wünsche und so weiter in der Seele leben.

Am leichtesten erhält man von dem Zustande, in dem die Seele in der nächsten Zeit nach dem Tode lebt, eine Vorstellung durch folgende Überlegung. Man nehme ein ziemlich krasses Beispiel dazu: die Genüsse eines Feinschmeckers. Er hat seine Lust am Gaumenkitzel durch die Speisen. Der Genuß ist natürlich nichts Körperliches, sondern etwas Seelisches. In der Seele lebt die Lust und auch die Begierde nach der Lust. Zur Befriedigung der Begierde ist aber das entsprechende körperliche Organ, der Gaumen und so weiter, notwendig. Nach dem Tode hat nun die Seele eine solche Begierde nicht sogleich verloren, wohl aber hat sie das körperliche Organ nicht mehr, welches das Mittel ist, die Begierde zu befriedigen. Es ist nun – zwar aus einem anderen Grunde, der aber ähnlich, nur weit stärker wirkt – für den Menschen so, wie wenn er in einer Gegend, in der weit und breit kein Wasser ist, brennenden Durst litte. So leidet die Seele brennend an der Entbehrung der Lust, weil sie das körperliche Organ abgelegt hat, durch das sie die Lust haben kann. So ist es mit allem, wonach die Seele verlangt und das nur durch die körperlichen Organe befriedigt werden kann. Es dauert dieser Zustand (brennender Entbehrung) so lange, bis die Seele gelernt hat, nicht mehr nach solchem zu begehren, was nur durch den Körper befriedigt werden kann. Und die Zeit, welche in diesem Zustande verbracht wird, kann man den Ort der Begierden nennen, obgleich man es natürlich nicht mit einem "Orte" zu tun hat. […]

Insofern die seelische Welt der Aufenthalt des Menschen unmittelbar nach dem Tode ist, kann sie der "Ort der Begierden" genannt werden. Die verschiedenen Religionssysteme, die ein Bewußtsein von diesen Verhältnissen in ihre Lehren aufgenommen haben, kennen diesen "Ort der Begierden" unter dem Namen "Fegefeuer", "Läuterungsfeuer" und so weiter. […]

Man darf [jedoch eine] solche Läuterung nicht in demselben Sinne als ein Leiden bezeichnen, wie man ähnliches in der Sinnenwelt nur als Leiden empfinden müsste. Denn die Seele verlangt nach dem Tode nach ihrer Läuterung, weil nur durch diese eine in ihr bestehende Unvollkommenheit getilgt werden kann. […]"

(aus Tb 615, S. 110–114)

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… die Gleichberechtigung der Geschlechter

"[…] Es ist unmöglich, einen Menschen ganz zu verstehen, wenn man seiner Beurteilung einen Gattungsbegriff zugrunde legt. Am hartnäckigsten im Beurteilen nach der Gattung ist man da, wo es sich um das Geschlecht des Menschen handelt. Der Mann sieht im Weibe, das Weib in dem Manne fast immer zuviel von dem allgemeinen Charakter des anderen Geschlechtes und zu wenig von dem Individuellen. Im praktischen Leben schadet das den Männern weniger als den Frauen. Die soziale Stellung der Frau ist zumeist deshalb eine so unwürdige, weil sie in vielen Punkten, wo sie es sein sollte, nicht bedingt ist durch die individuellen Eigentümlichkeiten der einzelnen Frau, sondern durch die allgemeinen Vorstellungen, die man sich von der natürlichen Aufgabe und den Bedürfnissen des Weibes macht. Die Betätigung des Mannes im Leben richtet sich nach dessen individuellen Fähigkeiten und Neigungen, die des Weibes soll ausschließlich durch den Umstand bedingt sein, daß es eben Weib ist. Das Weib soll der Sklave des Gattungsmäßigen, des Allgemein-Weiblichen sein. Solange von Männern darüber debattiert wird, ob die Frau "ihrer Naturanlage nach" zu diesem oder jenem Beruf tauge, solange kann die sogenannte Frauenfrage aus ihrem elementarsten Stadium nicht herauskommen. Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann, das überlasse man der Frau zu beurteilen. Wenn es wahr ist, daß die Frauen nur zu dem Berufe taugen, der ihnen jetzt zukommt, dann werden sie aus sich selbst heraus kaum einen anderen erreichen. Sie müssen es aber selbst entscheiden können, was ihrer Natur gemäß ist. Wer eine Erschütterung unserer sozialen Zustände davon befürchtet, daß die Frauen nicht als Gattungsmenschen, sondern als Individuen genommen werden, dem muß entgegnet werden, daß soziale Zustände, innerhalb welcher die Hälfte der Menschheit ein menschenunwürdiges Dasein hat, eben der Verbesserung gar sehr bedürftig sind. […]"

(aus Tb 627, S. 238–239)

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… Aberglauben

"[…]Wenn Sie diesem oder jenem gegenübertreten mit einer Naturerscheinung, die einer Aufklärung bedarf, und versuchen, eine solche Erscheinung im Zusammenhang mit ihren geistigen Untergründen zu erklären und darauf Anspruch machen, eine alltägliche Erscheinung auf ihre geistige Unterlage zurüchzuführen, dann werden Sie bei den meisten Menschen unserer Gegenwart kein besonderes Interesse erregen. Viele Menschen unserer Gegenwart suchen nicht das Erklärliche, sondern das Un- erklärliche. Sie sind froh, wenn sie etwas finden können, was ihnen unerklärlich bleibt. Erzählen Sie einem, daß sich da oder dort etwas zugetragen hat, wofür kein Mensch eine Erklärung weiß, dann sind sie zufrieden. Die Menschen wollen also geradezu hingewiesen werden auf das Unerklärliche. Sie wollen nicht das, was sich ihnen bietet, durchdringen, sondern das Wunderbare vermehren. Versuchen Sie, einem Menschen etwas über die Entwichelung der Pflanzen zu erklären, indem er sie aus den Untergründen der Entwichelung erfassen und tief in die Natur hineinschauen kann, dann von dem Sinnlichen, wo man den Geist an einem Ende anfaßt, tief hineingeführt wird in das Geistige - dann kann er nicht an eine geistige Welt glauben! Erzählen Sie aber einem solchen Menschen, daß eine Hand von einer Statue abhanden gekommen ist, in einer anderen Stadt gefunden wurde und wieder eingesetzt worden ist, da sagen sie: Das kann kein Mensch erklären, folglich glaube ich an eine geistige Welt. - Das ist so, daß die Menschen dem Geiste gegenüber verständnislos bleiben wollen, weil sie glauben, daß man das nicht ergründen darf. Damit eröffnen sie dem Aberglauben aber Tür und Tor an allen Ecken und Enden. […]"

(aus Tb 686, S. 157–158)

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… die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten

"[…] Etwas anderes, was, man möchte sagen, schon energischer zu den Seelen sprechen wird in bezug auf den Verkehr zwischen Toten und Lebenden, das ist, daß die toten Seelen auch in einer gewissen Weise Nahrung brauchen, allerdings nicht Nahrung, wie sie die Menschen brauchen auf der Erde, sondern geistig-seelische Nahrung. Wie es einer Tatsache entspricht, daß wir Menschen auf der Erde - ich darf diesen Vergleich gebrauchen - unsere Saatfelder haben müssen, auf denen die Früchte gedeihen, von denen wir auf Erden physisch leben, so müssen die Seelen der Toten Saatfelder haben, auf denen sie gewisse Früchte ernten können, die sie brauchen in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Wenn der hellsichtige Blick die toten Seelen verfolgt, so sieht er, wie die schlafenden Menschenseelen das Saatfeld sind für die Toten, für die Dahingegangenen. Es ist gewiß nicht nur überraschend, sondern für den, der das zum ersten Male sieht in der geistigen Welt, sogar im höchsten Grade erschütternd, zu sehen, wie die Menschenseelen, die zwischen dem Tode und einer neuen Geburt leben, gleichsam hineilen zu den schlafenden Menschenseelen und nach den Gedanken und Ideen suchen, welche in den schlafenden Menschenseelen sind: denn von diesen nähren sie sich, und sie brauchen diese Nahrung. Wenn wir nämlich des Abends einschlafen, können wir schon sagen: da beginnen die Ideen, die Gedanken, die während unseres Wachzustandes durch unser Bewußtsein gegangen sind, zu leben, werden gleichsam lebendige Wesen. Und die toten Seelen kommen herbei und nehmen Anteil an diesen Ideen. In dem Anblick dieser Ideen fühlen sie sich genährt. Oh, es hat etwas Erschütterndes, wenn man den hellsichtigen Blick richtet auf hingestorbene Menschen, die allnächtlich zu den schlafenden Zurückgebliebenen kommen - wir mussen da sowohl die Freunde als auch besonders die Blutsverwandten in Betracht ziehen - und wollen sich gleichsam laben, nähren an den Gedanken und Ideen, die diese mit in den Schlaf genommen haben - und finden nichts, was für sie nahrhaft ist. Denn es ist ein größer Unterschied zwischen Ideen und Ideen in bezug auf unsern Schlafzustand. Wenn wir den ganzen Tag über uns nur beschäftigen mit den materiellen Ideen des Lebens, wenn wir die Blicke nur richten auf dasjenige, was in der physischen Welt vor sich geht und dort verrichtet werden kann, und wenn wir nicht einmal vor dem Einschlafen einen Gedanken haben an die geistigen Welten, sondern im Gegenteil in vieler Beziehung anders als durch Gedanken uns in die geistigen Welten hinüberbringen, so bieten wir keine Nahrung für die Toten. - Ich kenne Gegenden in Europa, wo die jungen Leute an den Hochschulen so erzogen werden, daß sie sich in Schlaf bringen, indem sie sich die sogenannte Bettschwere mit dem nötigen Quantum Bier antrinken. Das ist ein Hinüberbringen von Ideen, die nicht leben können drüben. Und wenn dann die toten Seelen herankommen, dann finden sie ein leeres Feld, dann geht es diesen toten Seelen so, wie es uns geht für unsern physischen Leib, wenn durch Unfruchtbarkeit auf unsern Feldern Hungersnot ausbricht. Namentlich in unserer Zeit kann viel Seelenhungersnot beobachtet werden in den geistigen Welten, denn das materialistische Fühlen und Empfinden hat viel Verbreitung schon gefunden. Und es gibt ja heute schon zahlreiche Menschen, die es als kindisch empfinden, sich mit Gedanken an die geistige Welt zu befassen. Sie entziehen dadurch Menschen, die von ihnen Nahrung bekommen sollen nach dem Tode, diese Nahrung, diese Seelennahrung.
Damit man dieses Faktum richtig versteht, muß erwähnt werden, daß man sich nach dem Tode nähren kann von den Ideen und Gedanken nur derjenigen Seelen, mit denen man irgendwie im Leben im Zusammenhang war. Von denjenigen, mit denen man gar keinen Zusammenhang hatte, kann man sich nach dem Tode nicht nähren. Wenn wir in unserer heutigen Zeit, um wiederum spirituell Lebendiges in den Seelen zu haben, von dem sich die Toten nähren können, Geisteswissenschaft verbreiten, dann arbeiten wir wirklich nicht bloß für die Lebenden, nicht bloß darum, daß die Lebenden eine theoretische Befriedigung haben, sondern wir versuchen unsere Herzen und Seelen anzufüllen mit Gedanken der geistigen Welt, weil wir wissen, daß die Toten, die mit uns auf der Erde verbunden waren, nach dem Tode von diesen Ideen und diesen Empfindungen für das spirituelle Leben sich nähren müssen. Wir fühlen uns heute nicht nur als Arbeiter für die sogenannten lebenden Menschen, sondern zugleich auch als Arbeiter so, daß die geisteswissenschaftliche Arbeit, die Verbreitung des anthroposophischen Lebens auch den geistigen Welten dient. Wir schaffen, indem wir zu den Lebenden sprechen für deren Tagesleben, durch die spirituelle Seelenbefriedigung für das Nachtleben solche Ideen, die fruchtbare Nahrung für die Seelen sind, die früher hinzusterben als wir das Karma haben. […] Wenn man so kennenlernt zum Beispiel einen Menschen, der vor einiger Zeit gestorben ist, wenn man ihn findet in der geistigen Welt, und man hat ihn gekannt, als er hier auf Erden lebte, und er hat gewisse Glieder seiner Familie zurückgelassen, die man auch kannte, seine Frau, Kinder - im äußeren Sinne gute Menschen, die einander wirklich liebten -, und dann findet man jetzt mit dem hellsichtigen Blick den Vater, der dahingestorben ist, dem die Gattin vielleicht wie eine Art Lebenssonne war, wenn er im Leben nach Hause kam von der schweren Arbeit, dann findet man, daß er, weil diese Gattin keine spirituellen Gedanken im Kopf und im Herzen haben kann, nicht in die Seele dieser Gattin hineinschauen kann, und daß er frägt, wenn er dazu in der Lage ist: Ja, wo ist denn meine Gattin? - Er sieht nur zurück in die Zeit, in der er auf Erden mit ihr vereint war. Da wo er sie aber am meisten sucht, weiß er sie nicht zu finden. Das kann auch passieren. Es gibt ja heute schon viele Menschen, welche gewissermaßen glauben, daß der Tote eben in eine Art von Nichts eingegangen sei, die nur mit ganz materialistischem Denken, nicht mit einem fruchtbaren Gedanken an den Toten denken können. Bei diesem Hinschauen auf die Gebiete des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, auf jemanden, von dem man weiß: er ist noch unten auf der Erde, er hat einen lieb gehabt, aber er verbindet damit nicht den Glauben an die Fortdauer der Seele nach dem Tode, da kann allerdings gerade in dem Augenblicke nach dem Tode, wo man die meiste Aufmerksamkeit darauf richtet - durch dieses Hinschauen-Wollen auf den Lebenden, den man geliebt hat-, aller Blick ersterben. Und man kann nicht finden den noch Lebenden, kann mit ihm in keinen Zusammenhang kommen, von dem man aber weiß, daß er dasein könnte, wenn in der Seele des Lebenden da unten spirituelle Gedanken wären. Das ist ein häufiges, schmerzliches Erlebnis für die Toten. Und so kann es vorkommen - von dem hellsichtigen Blick kann das beobachtet werden, wie mancher dahinstirbt und Hindernisse findet in den besten Absichten durch die Haßgedanken, die ihn verfolgen, und keinen Trost findet in den Liebegedanken derjenigen, die ihn auf Erden geliebt haben, da er sie nicht wahrnehmen kann wegen ihres Materialismus. […]"

(aus GA 140)

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Nach und nach werden weitere Zitate ergänzt werden!